In Kapitel 9.1.1 hatten wir festgestellt, daß wir ein System von Aussagen nur dann mit
dem Etikett wissenschaftlich" versehen können, wenn die in ihm
enthaltenen Aussagen unter permanentem Begründungsdruck stehen, wobei zwischen wahren und
falschen Aussagen systematisch unter Zuhilfenahme des Kriteriums der logischen
Widerspruchsfreiheit unterschieden wird."
Wie an gleicher Stelle ausgeführt wurde, beruht das zentrale Problem, das sich für
Wissenschaft hierdurch stellt, in der logisch unumstößlichen Tatsache, daß alle
Begründungen letztlich auf etwas gründen, was selbst nicht mehr begründet werden kann
(Letztbegründungsproblem).
Dies aber bedeutet: Das wissenschaftliche Prinzip läßt sich auf die Grundlage aller
Wissenschaftlichkeit selbst nicht mehr anwenden. Anders formuliert: Wissenschaft beruht
letzten Endes auf reiner Willkür.
Erstaunlich ist, wie das Sozialsystem der Wissenschaft mit diesem ungeheuer
problematischen und bedeutsamen Sachverhalt umgegangen ist. Sieht man nämlich von einigen
vereinzelten Akademieveranstaltungen ab, so muß man feststellen, daß die letztlich alles
entscheidende Frage nach den Antriebsquellen der wissenschaftlichen Forschung nicht in
einem offenen, gesellschaftlichen Diskurs erörtert, sondern auf das private Gewissen der
angeblich freien" WissenschaftlerInnen abgewälzt wird.
Dies hat nicht nur schwerwiegende wissenschaftliche Probleme zur Folge. Auch die
sozialen Probleme, die aus der Tatsache resultieren, daß der gesellschaftlich hochgradig
bedeutsame Bereich der Wissenschaft mehr oder weniger unkontrolliert der Willkür einiger
weniger ForscherInnen (in der Regel C4- ProfessorInnen) überantwortet ist, sind
beachtlich, denn WissenschaftlerInnen zeichnen sich in der Regel ja nicht dadurch aus,
daß sie überdurchschnittlich nette und engagierte Menschen sind, denen das Wohl ihrer
Mitmenschen besonders am Herzen liegt. Im Gegenteil! Liest man die einschlägigen
Verlautbarungen der traditionellen Wissenschaftsorganisationen, so muß man erkennen, daß
sich das Gros der WissenschaftlerInnen in der Regel nur für zwei Dinge engagiert,
nämlich 1. für ihre eigenen unmittelbaren Interessen (Fördergelder, Zuschüsse usw.)
und 2. für das gesellschaftspolitisch zwar opportune, insgesamt jedoch sehr zweifelhafte
Projekt der sogenannten Standortsicherung".
Überspringen wir den für uns hier nur mäßig spannenden Punkt (der ja insbesondere in
Kapitel 8.2 klar hervorgetreten ist) und konzentrieren uns auf Punkt 2:
Es bedarf keiner großer argumentativer Anstrengung, um zu begründen, daß die Reduktion
wissenschaftlicher Verantwortlichkeit auf den Bereich nationalökonomischer
Standortsicherung für das notwendige Projekt einer qualitativen Veränderung (sprich:
Humanisierung) der Weltverhältnisse überaus fatal ist. Kein Wunder, daß die grüne
Hochschulpolitikerin Katrin GRÜBER die Standortfixierung der WissenschaftlerInnen scharf
angeht:
Die Standortdebatte verhindert den Blick über den Tellerrand. Dieser würde
deutlich machen, daß die Ausrichtung auf den Weltmarkt einen gnadenlosen Wettbewerb
verursacht, bei dem es wenige Gewinner und viele Verlierer geben wird."
In der Tat ist das mit der Standortdebatte zusammenhängende wissenschaftliche Wettrüsten
der angeschlagenen Nationalökonomien gerade in der heutigen Situation mehr als
schädlich, denn die immer größer werdenden, globalen Probleme sind nur durch
gemeinsames, postnationales Denken und Handeln zu bewältigen:
Die Fixierung auf die Weltmarktorientierung lenkt von der globalen Verantwortung
(auch der Wissenschaft) ab, z.B. bei der Umsetzung des Leitbildes der nachhaltigen
Entwicklung - gegen die drohende Klimakatastrophe und die weltweite
Ressourcenverschwendung. Es muß überprüft werden, welchen Beitrag Wissenschaft zur
Überwindung der schwerwiegenden Probleme der Ernährung, des Wohnens und der sozialen
Verelendung leisten kann, anstatt diese durch die einseitige Bevorzugung des Nordens
geradezu zu verschärfen."
Jürgen SCHNEIDER weist in einem Beitrag zum Thema Wissenschaft und
Verantwortung" in dieselbe Richtung:
Die nachweisliche Bedrohung kennt keine Grenzen, keine Ideologien, Parteien oder
sonstige Unterschiede. Die Anerkennung der globalen als die unterschiedslos alle
betreffende gemeinsame Bedrohung ist die wichtigste Voraussetzung für eine Bewältigung
der Probleme der Zukunft und für die globale Durchsetzung der vielen positiven und
längst bekannten potentiellen Entwicklungen. Dazu bedarf es interdisziplinärer
nationaler und internationaler Kooperation in einem Ausmaß wie nie zuvor in der
Menschheitsgeschichte. Uneinsichtigkeit in diese Notwendigkeiten und Ignoranz gegenüber
den Problemen, ja auch Beschönigen der Gefahren werden zur schweren Schuld werden, welche
uns von unseren Kindern und Enkeln hart und berechtigt vorgerechnet werden wird. Wir
sollten eine glaubwürdige Antwort kennen, wenn uns unsere Kinder und Enkel fragen werden,
- und sie werden das tun - welches unser ganz persönlicher Beitrag war, um die Gefahren
abzuwenden."
WissenschaftlerInnen müssen - ist hieraus zu schließen - in der heutigen, weltpolitisch
entscheidenden Situation endlich Farbe bekennen. Sie müssen sich entscheiden, ob sie für
eine Wissenschaft des Überlebens oder für eine Wissenschaft der Vernichtung eintreten
wollen, für eine Logik der Rettung oder eine Logik der Zerstörung. Angesichts der
dramatischer werdenden Bedrohungen kann ein Weglaufen vor der Verantwortung nicht länger
toleriert werden. SCHNEIDERs Fazit:
Wir als WissenschaftlerInnen dürfen uns nicht unter dem Deckmantel der Freiheit von
Lehre und Forschung in den Elfenbeinturm der reinen Wissenschaft" einmauern. Es
muß die Frage nach den Zielen der Forschung gestellt werden und danach, wer diese Ziele
bestimmt. Schon durch die Auswahl der Themen für Forschung und Lehre kann etwas bewirkt
werden."
Es ist - wie die Krisenbeschreibung in Kapitel 10 untermauern wird - evident, daß
wissenschaftliche Forschung heute nicht mehr im Sinne unverbindlicher Wahrheitssuche
(Elfenbeinturm) oder nationalökonomischer Standortsicherung
(Dienstleistungsorientie-rung) betrieben werden kann. Auch die damit zusammenhängende
Frage der Auswahl der Forschungsfragen ist alles andere als beliebig: Angesichts der
zugespitzten Situation verlangt human engagierte Forschung heute einen klaren
Forschungsschwerpunkt - und der lautet: Sustainable Development.
Wichtig ist aber nicht nur, daß in der Wissenschaft endlich die richtigen Themen besetzt
werden, diese Themen müssen auch in der richtigen Weise behandelt werden, was nicht nur
interdisziplinär offenes, problemorientiertes und konsequent wissenschaftliches Denken
und Handeln verlangt, sondern vor allem auch den Mut zum öffentlichen Widerspruch gegen
zerstörerische gesellschaftliche Übereinkünfte. Kritische, human engagierte Forschung
und Lehre kann sich nämlich nicht damit begnügen, Narrenfreiheit auf der
(Sprach-)Spielwiese der Wissenschaft zu besitzen. Sie muß sich notwendigerweise
einmischen in das politische Geschehen, darf sich also auf keinen Fall vor der
Konfrontation mit gesellschaftlichen Machtinstanzen drücken. Im Gegenteil:
Wissenschaft braucht Macht und muß sie wollen" !
DAXNER begründet die Notwendigkeit einer Machtergreifung der Wissenschaft wie folgt: Die
Probleme, mit denen wir heute zunehmend konfrontiert werden, sind komplex,
kompliziert, global und langfristig", während die Politik, die diese Probleme
eigentlich bearbeiten soll, unkomplex, eher einfach strukturiert, provinziell und
kurzatmig" ist. Da Wissenschaft von ihrem Anspruch her den
Problemen in adäquaterer Weise gegenübertreten muß, ist sie vom Lösungsentwurf
her näher an der Entscheidungsmaterie als die Politik, deren Selbstreproduktion immer
noch ein Stabilitätswert für die Beteiligten ist."
Fordert die Wissenschaft aber nun mit dem Hinweis auf ihre höhere
Problemlösungskompetenz entschieden politische Mitspracherechte ein, so dringt sie mit
diesem Vorgehen offensiv in das sensibelste Feld unserer Gesellschaftsstruktur ein,
nämlich in die demokratischen Grundregeln."
Trotz der damit verbundenen, partiellen Aufhebung der geltenden formaldemokratischen
Spielregeln hält DAXNER das gesellschaftliche Eingreifen der Wissenschaft angesichts der
zunehmenden ökologischen Bedrohung für gerechtfertigt. Er erläutert dies u.a. am
Beispiel der Dünnsäureverklappung:
Ein spontan ausgesprochenes [und wissenschaftlich begründetes] Verbot der
Verklappung von Dünnsäure in der Nordsee als einer erkannten und nicht mehr bloß
vermuteten Notwendigkeit zur Rettung vielfältigster Arten und biochemischer Strukturen
ist nicht verhandlungsfähig. Was nicht verhandlungsfähig ist, darf nicht einer
aufgesetzten demokratischen Prozedur geopfert werden. [...] ein anderes Beispiel dieser
Klasse wäre die Frage von Geschwindigkeitsbegrenzungen oder einer völligen Einstellung
des Binnenflugverkehrs."
Die leicht zu antizipierende Frage: Will man denn den Politikern die Verantwortung
aus der Hand nehmen, soll die Wissenschaft darüber bestimmen dürfen, daß ab morgen
keine Dünnsäure mehr verklappt wird, ohne den betroffenen Firmen Gelegenheit zu geben,
ein Gericht anzurufen?" , bejaht DAXNER unumwunden. Allerdings weist er relativierend
darauf hin, daß die Anzahl der Negativmaßnahmen im beschriebenen rigiden Sinn
nicht allzu groß ist", da es hier ausschließlich um Evidenzen mit großem
Wirkungsradius und globaler Bedeutung" gehe.
Wichtiger als diese Einschränkung des Handlungsbereiches ist DAXNERs Hinweis, daß mit
dem Plädoyer für ein Mächtigwerden der Wissenschaft kein Herrschaftsanspruch von
Wissenschaft gemeint sei, sondern daß es hierbei vielmehr um die notwendige
Teilhabe an der Macht unter der Souveränität der unter Entscheidungszwang
stehenden Öffentlichkeit" gehe.
Um dies zu verstehen, sei an die Argumentation bezüglich der - auch von DAXNER
geforderten - Demokratisierung des Wissenschaftssystems (Stichwort: Hochschule als
republikanischer Ort") erinnert. Schon allein das an BEUYS erinnernde Motto:
Jeder ist ein Wissenschaftler!", das im Zentrum von Kapitel 9.2.5 stand,
dürfte deutlich machen, daß mit der Forderung einer verstärkten
gesellschaftspolitischen Bedeutung der Wissenschaft keiner demokratiefeindlichen
Expertokratie das Wort geredet wird.
Um es auf den Punkt zu bringen: Es geht hier nicht um eine Stärkung der Macht des real
existierenden Sozialsystems Wissenschaft", sondern ausschließlich um eine
Stärkung der Bedeutung des Aussagensystems Wissenschaft". Zunehmend Einfluß
gewinnen sollte also nicht die Kaste der real existierenden WissenschaftlerInnen, sondern
das konsequente, wissenschaftliche Denken, und damit meine ich vor allem die in Kapitel
9.1 rekonstruierte wissenschaftliche Methode.
Damit kommen wir zu einem ganz entscheidenden Punkt der Argumentation: Es ist - wie ich
nachfolgend in aller Kürze zu zeigen gedenke - für das Projekt einer nachhaltigen
Entwicklung der Menschheit von allergrößter Wichtigkeit, daß sich das wissenschaftliche
Wahrheitsprinzip gegen das formaldemokratische Kompromiß- oder Mehrheitsprinzip
durchsetzt.
Führen wir uns - um dies zu verstehen - den zentralen Unterschied von wissenschaftlichem
Wahrheitsprinzip und formaldemokratischem Kompromißprinzip vor Augen:
Während es im Kontext des wissenschaftlichen Wahrheitsprinzips logisch begründete und
damit gerechtfertigte Zwänge gibt, die Gültigkeit einer Aussage zu akzeptieren oder zu
verwerfen, ist der logische Wahrheitswert einer Aussage im Kontext des
formaldemokratischen Kompromißprinzips hochgradig irrelevant, da hier die Akzeptanz einer
Aussage nicht von ihrem Wahrheitswert, sondern von politischen Mehrheitsverhältnissen,
d.h. vom politischen Meinungsmarkt, abhängt.
Ich möchte die hier angesprochene Problematik an einem einfachen - zugegeben: polemisch
formulierten - Beispiel verdeutlichen:
Im Kontext des wissenschaftlichen Wahrheitsprinzips kann es aufgrund der axiomatischen
Festlegungen der Mathematik auf die Frage: Was ist das Ergebnis der Addition
2+2?", nur eine einzige richtige Antwort geben, nämlich die Antwort: 4".
Im Kontext des formaldemokratischen Prinzips können auf die gleiche Frage jedoch höchst
unterschiedliche Antworten gegeben werden, die entsprechend der politischen,
weltanschaulichen oder religiösen Gesinnung der Antwortgebenden variieren. So könnte zum
Beispiel eine christliche Gruppierung im Hinblick auf die kulturtragende Bedeutung der
Zehn Gebote energisch für die Zahl 10 votieren, während GewerkschaftslobbyistInnen sich
vielleicht (als symbolische Geste für die 36-Stundenwoche) mit großem Eifer für die
Zahl 36 stark machen. Nehmen wir noch die etwas exotischere Schar der Douglas ADAMS-Fans
hinzu, für die die ultimative Antwort auf alle Fragen ohnehin 42" lautet , so
ist das Chaos perfekt. Wie würden RealpolitikerInnen nun mit dieser merkwürdigen Form
gesellschaftlicher Pluralität umgehen? Aller Wahrscheinlichkeit nach würde ihre Antwort
einen Wert so um die Zahl 22" herum ergeben, nicht nur weil hier die beiden
Zahlen der Ausgangsfrage politisch sauber integriert werden konnten, sondern vor allem
deshalb, weil RealpolitikerInnen stets davon ausgehen, daß die richtige Lösung irgendwo
in der Mitte zu finden ist. (Selbstverständlich ist bei der Lösung 22 Rücksicht
auf die Bedeutung der christlichen Tradition genommen worden, was die Abweichung von der
Mitte und die größere Nähe zur Zahl 10 erklärt.)
Aber Spaß beiseite, die Sache ist ernst genug: Die formaldemokratische Eliminierung des
Wahrheitsprinzips ist - vor allem angesichts der globalen Bedrohung der Menschheit - heute
mit verheerenden weltgesellschaftlichen Folgen verbunden, denn wissenschaftlich
erarbeitete, zukunftsfähige Lösungsmodelle können nicht zuletzt auch deshalb nicht
umgesetzt werden, weil weitgehend unaufgeklärte Bevölkerungsmehrheiten - incl. der nicht
weniger unaufgeklärten Mehrheit der WirtschaftsführerInnen und PolitikerInnen - solche
Strategien nicht befürworten und statt dessen für politische Maßnahmen votieren, die
zwangsläufig in den Untergang führen werden.
Deshalb nochmals im Klartext: Eine Politik, die aus engstirnigen Opportunitätsgründen
auf der Gültigkeit der Formel 2+2=22 aufbaut, muß über kurz oder lang in den Abgrund
führen, weil bestimmte Wahrheiten nicht dauerhaft geleugnet werden können, ohne daß das
Ganze Schaden nimmt. (Hier sei an die Parabel vom gelben Fluß" aus Kapitel
9.1.2. erinnert.)
In der derzeitigen, angespannten Situation können wir uns fehlerbedingte technische
Pluralität" (vgl. Abbildung 29: Pluralitätsproduktion im Forschungsprozeß) nicht
mehr uneingeschränkt leisten. Da aber Wahrheit entgegen postmoderner Mythologie
nicht durch Mehrheitsentscheid gewonnen oder im Pluralismus-Sud verkocht werden kann"
(Kapitel 6.5.3), müssen WissenschaftlerInnen ihrer zentralen ethischen Pflicht nachkommen
und in aller Schärfe gegen den gesellschaftstragenden Konsensus der Dummheit angehen, was
auf einer abstrakteren Ebene auch bedeutet, daß sie das wissenschaftliche
Wahrheitsprinzip gegenüber dem formaldemokratischen Kompromiß- und Mehrheitssystem
energisch verteidigen müssen.
Um dies leisten zu können, ist heute eine kritische, human engagierte Wissenschaft
gefordert, die das traditionelle Postulat der Freiheit von Lehre und Forschung"
auf eine ganz besondere Art und Weise verwirklicht, nämlich durch eine weitgehende
Emanzipation von den drei strukturellen Grundblockaden, die im real existierenden
Wissenschaftssystem eine konsequent humanistische Wissenschaft stets wirksam verhinderten.
Hierbei handelt es sich um:
1. die traditionellen, internen Barrieren des Wissenschaftssystems, die wir in Kapitel 9.2
unter die Lupe genommen haben,
2. die unmittelbaren, auf kurzfristige Interessen abgestimmten Anforderungen von Staat und
Wirtschaft ( Stichwort: Dienstleistungsorientierung") und
3. den aus sozialem Anpassungsdruck geborenen Zwang zur unkritischen Bestätigung
temporär gültiger, gesellschaftlicher Vorurteile. (Hieran erkennt man übrigens ein
weiteres Mal, daß für die Wissenschaft letztlich das gleiche gilt wie für die Kunst,
denn was SCHILLER treffend - wenn auch (wie immer) ein wenig zu pathetisch - für die
KünstlerInnen formulierte, das trifft im gleichen Maße auch auf WissenschaftlerInnen zu:
Der Künstler ist zwar Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr
Zögling oder gar ihr Günst-ling ist. Eine wohltätige Gottheit reiße den Säugling
beizeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der Milch eines besseren Alters..."
)
Es ist mehr denn je von großer Wichtigkeit, daß die wissenschaftliche Methode zum
Aufbrechen gesellschaftlich normierter Vorurteile genutzt und für breite
Bevölkerungskreise nachvollziehbar und anwendbar wird. Gelingt dies nicht, so wird die
Demokratie, die bereits heute eine barbarische Tyrannei über die Zukünftigen darstellt,
ökologisch vollends untragbar werden. Gabor KOSCIS hat durchaus recht, wenn er
feststellt, daß das Grundproblem der modernen Demokratien nicht zuletzt darin besteht,
daß die überwiegende Mehrheit der Menschen, die Anspruch auf die Mündigkeit
erheben, den Ansprüchen, die die Mündigkeit an sie stellt, nicht gewachsen ist."
Angesichts der unübersehbaren politischen Mündigkeitsdefizite der
Bevölkerungsmehrheiten bedarf es heute - überlebensnotwendig - einer breit angelegten
Bildungsoffensive, einer zweiten Aufklärung, die ihre Energie darauf konzentriert, die
Menschen möglichst weitgehend aus den Fesseln der Unmündigkeit zu befreien.
Selbstverständlich weiß niemand, ob das Projekt der Aufklärung im zweiten Anlauf besser
gelingt, als dies in der Frühphase der kapitalistischen Entwicklung der Fall war. Aber
immerhin können wir heute - dank geschichtlicher Erfahrung und, wie ich meine,
verfeinerter logischer Argumentation - relativ gesichert davon ausgehen, daß die zum Teil
doch erschreckende politische Unmündigkeit breiter Bevölkerungsschichten - entgegen dem
elitären, idealistischen Mythos der ersten Aufklärung - alles andere als
selbstverschuldet, sondern strukturell bedingt und damit auch strukturell veränderbar
ist.
Allerdings: Damit das dringend notwendige Projekt der Aufklärung überhaupt in Gang
kommen kann, müssen diejenigen, die das gefährliche Wissen vom Untergang besitzen,
beherzt die Initiative ergreifen. Insbesondere die Intellektuellen, die sich in der Regel
das Privileg der Bildung nicht erkämpfen mußten, dürfen nicht der Versuchung erliegen,
dem postmodernen Willen zur Ohnmacht zu gehorchen. Hinter der modischen Fassade der
ironischen Resignation lauert nämlich eine Feigheit des Herzens, der wir ebensowenig
nachgeben dürfen wie der damit verbundenen Bankrotterklärung der Vernunft. Zwar mag der
Abschied von der Vision einer menschenwürdigen Zukunft angesichts der eingefahrenen
Weltsituation verständlich erscheinen. Toleriert werden darf er aber nicht, denn dies
wäre ein schrecklicher Verrat an der Menschheit, der nie wieder gut zu machen wäre.