9.3 Die Krise der Menschheit und die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft



In Kapitel 9.1.1 hatten wir festgestellt, daß wir ein System von Aussagen nur dann mit dem Etikett „wissenschaftlich" versehen können, „wenn die in ihm enthaltenen Aussagen unter permanentem Begründungsdruck stehen, wobei zwischen wahren und falschen Aussagen systematisch unter Zuhilfenahme des Kriteriums der logischen Widerspruchsfreiheit unterschieden wird."
Wie an gleicher Stelle ausgeführt wurde, beruht das zentrale Problem, das sich für Wissenschaft hierdurch stellt, in der logisch unumstößlichen Tatsache, daß alle Begründungen letztlich auf etwas gründen, was selbst nicht mehr begründet werden kann (Letztbegründungsproblem).
Dies aber bedeutet: Das wissenschaftliche Prinzip läßt sich auf die Grundlage aller Wissenschaftlichkeit selbst nicht mehr anwenden. Anders formuliert: Wissenschaft beruht letzten Endes auf reiner Willkür.
Erstaunlich ist, wie das Sozialsystem der Wissenschaft mit diesem ungeheuer problematischen und bedeutsamen Sachverhalt umgegangen ist. Sieht man nämlich von einigen vereinzelten Akademieveranstaltungen ab, so muß man feststellen, daß die letztlich alles entscheidende Frage nach den Antriebsquellen der wissenschaftlichen Forschung nicht in einem offenen, gesellschaftlichen Diskurs erörtert, sondern auf das private Gewissen der angeblich „freien" WissenschaftlerInnen abgewälzt wird.
Dies hat nicht nur schwerwiegende wissenschaftliche Probleme zur Folge.  Auch die sozialen Probleme, die aus der Tatsache resultieren, daß der gesellschaftlich hochgradig bedeutsame Bereich der Wissenschaft mehr oder weniger unkontrolliert der Willkür einiger weniger ForscherInnen (in der Regel C4- ProfessorInnen)  überantwortet ist, sind beachtlich, denn WissenschaftlerInnen zeichnen sich in der Regel ja nicht dadurch aus, daß sie überdurchschnittlich nette und engagierte Menschen sind, denen das Wohl ihrer Mitmenschen besonders am Herzen liegt.  Im Gegenteil! Liest man die einschlägigen Verlautbarungen der traditionellen Wissenschaftsorganisationen, so muß man erkennen, daß sich das Gros der WissenschaftlerInnen in der Regel nur für zwei Dinge engagiert, nämlich 1. für ihre eigenen unmittelbaren Interessen (Fördergelder, Zuschüsse usw.) und 2. für das gesellschaftspolitisch zwar opportune, insgesamt jedoch sehr zweifelhafte Projekt der sogenannten „Standortsicherung".
Überspringen wir den für uns hier nur mäßig spannenden Punkt (der ja insbesondere in Kapitel 8.2 klar hervorgetreten ist) und konzentrieren uns auf Punkt 2:
Es bedarf keiner großer argumentativer Anstrengung, um zu begründen, daß die Reduktion wissenschaftlicher Verantwortlichkeit auf den Bereich nationalökonomischer Standortsicherung für das notwendige Projekt einer qualitativen Veränderung (sprich: Humanisierung) der Weltverhältnisse überaus fatal ist. Kein Wunder, daß die grüne Hochschulpolitikerin Katrin GRÜBER die Standortfixierung der WissenschaftlerInnen scharf angeht:

„Die Standortdebatte verhindert den Blick über den Tellerrand. Dieser würde deutlich machen, daß die Ausrichtung auf den Weltmarkt einen gnadenlosen Wettbewerb verursacht, bei dem es wenige Gewinner und viele Verlierer geben wird."

In der Tat ist das mit der Standortdebatte zusammenhängende wissenschaftliche Wettrüsten der angeschlagenen Nationalökonomien gerade in der heutigen Situation mehr als schädlich, denn die immer größer werdenden, globalen Probleme sind nur durch gemeinsames, postnationales Denken und Handeln zu bewältigen:

„Die Fixierung auf die Weltmarktorientierung lenkt von der globalen Verantwortung (auch der Wissenschaft) ab, z.B. bei der Umsetzung des Leitbildes der nachhaltigen Entwicklung - gegen die drohende Klimakatastrophe und die weltweite Ressourcenverschwendung. Es muß überprüft werden, welchen Beitrag Wissenschaft zur Überwindung der schwerwiegenden Probleme der Ernährung, des Wohnens und der sozialen Verelendung leisten kann, anstatt diese durch die einseitige Bevorzugung des Nordens geradezu zu verschärfen."

Jürgen SCHNEIDER weist in einem Beitrag zum Thema „Wissenschaft und Verantwortung" in dieselbe Richtung:

„Die nachweisliche Bedrohung kennt keine Grenzen, keine Ideologien, Parteien oder sonstige Unterschiede. Die Anerkennung der globalen als die unterschiedslos alle betreffende gemeinsame Bedrohung ist die wichtigste Voraussetzung für eine Bewältigung der Probleme der Zukunft und für die globale Durchsetzung der vielen positiven und längst bekannten potentiellen Entwicklungen. Dazu bedarf es interdisziplinärer nationaler und internationaler Kooperation in einem Ausmaß wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Uneinsichtigkeit in diese Notwendigkeiten und Ignoranz gegenüber den Problemen, ja auch Beschönigen der Gefahren werden zur schweren Schuld werden, welche uns von unseren Kindern und Enkeln hart und berechtigt vorgerechnet werden wird. Wir sollten eine glaubwürdige Antwort kennen, wenn uns unsere Kinder und Enkel fragen werden, - und sie werden das tun - welches unser ganz persönlicher Beitrag war, um die Gefahren abzuwenden."

WissenschaftlerInnen müssen - ist hieraus zu schließen - in der heutigen, weltpolitisch entscheidenden Situation endlich Farbe bekennen. Sie müssen sich entscheiden, ob sie für eine Wissenschaft des Überlebens oder für eine Wissenschaft der Vernichtung eintreten wollen, für eine Logik der Rettung oder eine Logik der Zerstörung. Angesichts der dramatischer werdenden Bedrohungen kann ein Weglaufen vor der Verantwortung nicht länger toleriert werden. SCHNEIDERs Fazit:

„Wir als WissenschaftlerInnen dürfen uns nicht unter dem Deckmantel der Freiheit von Lehre und Forschung in den Elfenbeinturm der „reinen Wissenschaft" einmauern. Es muß die Frage nach den Zielen der Forschung gestellt werden und danach, wer diese Ziele bestimmt. Schon durch die Auswahl der Themen für Forschung und Lehre kann etwas bewirkt werden."
Es ist - wie die Krisenbeschreibung in Kapitel 10 untermauern wird - evident, daß wissenschaftliche Forschung heute nicht mehr im Sinne unverbindlicher Wahrheitssuche (Elfenbeinturm) oder nationalökonomischer Standortsicherung (Dienstleistungsorientie-rung) betrieben werden kann. Auch die damit zusammenhängende Frage der Auswahl der Forschungsfragen ist alles andere als beliebig: Angesichts der zugespitzten Situation verlangt human engagierte Forschung heute einen klaren Forschungsschwerpunkt - und der lautet: Sustainable Development.
Wichtig ist aber nicht nur, daß in der Wissenschaft endlich die richtigen Themen besetzt werden, diese Themen müssen auch in der richtigen Weise behandelt werden, was nicht nur interdisziplinär offenes, problemorientiertes und konsequent wissenschaftliches Denken und Handeln verlangt, sondern vor allem auch den Mut zum öffentlichen Widerspruch gegen zerstörerische gesellschaftliche Übereinkünfte. Kritische, human engagierte Forschung und Lehre kann sich nämlich nicht damit begnügen, Narrenfreiheit auf der (Sprach-)Spielwiese der Wissenschaft zu besitzen. Sie muß sich notwendigerweise einmischen in das politische Geschehen, darf sich also auf keinen Fall vor der Konfrontation mit gesellschaftlichen Machtinstanzen drücken. Im Gegenteil: „Wissenschaft braucht Macht und muß sie wollen" !

Wissenschaft an die Macht?


DAXNER begründet die Notwendigkeit einer Machtergreifung der Wissenschaft wie folgt: Die Probleme, mit denen wir heute zunehmend konfrontiert werden, sind „komplex, kompliziert, global und langfristig", während die Politik, die diese Probleme eigentlich bearbeiten soll, „unkomplex, eher einfach strukturiert, provinziell und kurzatmig" ist.    Da Wissenschaft von ihrem Anspruch her den Problemen in adäquaterer Weise gegenübertreten muß, ist sie „vom Lösungsentwurf her näher an der Entscheidungsmaterie als die Politik, deren Selbstreproduktion immer noch ein Stabilitätswert für die Beteiligten ist."
Fordert die Wissenschaft aber nun mit dem Hinweis auf ihre höhere Problemlösungskompetenz entschieden politische Mitspracherechte ein, so dringt sie mit diesem Vorgehen offensiv „in das sensibelste Feld unserer Gesellschaftsstruktur ein, nämlich in die demokratischen Grundregeln."
Trotz der damit verbundenen, partiellen Aufhebung der geltenden formaldemokratischen Spielregeln hält DAXNER das gesellschaftliche Eingreifen der Wissenschaft angesichts der zunehmenden ökologischen Bedrohung für gerechtfertigt. Er erläutert dies u.a. am Beispiel der Dünnsäureverklappung:

„Ein spontan ausgesprochenes [und wissenschaftlich begründetes] Verbot der Verklappung von Dünnsäure in der Nordsee als einer erkannten und nicht mehr bloß vermuteten Notwendigkeit zur Rettung vielfältigster Arten und biochemischer Strukturen ist nicht verhandlungsfähig. Was nicht verhandlungsfähig ist, darf nicht einer aufgesetzten demokratischen Prozedur geopfert werden. [...] ein anderes Beispiel dieser Klasse wäre die Frage von Geschwindigkeitsbegrenzungen oder einer völligen Einstellung des Binnenflugverkehrs."

Die leicht zu antizipierende Frage: „Will man denn den Politikern die Verantwortung aus der Hand nehmen, soll die Wissenschaft darüber bestimmen dürfen, daß ab morgen keine Dünnsäure mehr verklappt wird, ohne den betroffenen Firmen Gelegenheit zu geben, ein Gericht anzurufen?" , bejaht DAXNER unumwunden. Allerdings weist er relativierend darauf hin, „daß die Anzahl der Negativmaßnahmen im beschriebenen rigiden Sinn nicht allzu groß ist", da es hier „ausschließlich um Evidenzen mit großem Wirkungsradius und globaler Bedeutung"  gehe.
Wichtiger als diese Einschränkung des Handlungsbereiches ist DAXNERs Hinweis, daß mit dem Plädoyer für ein Mächtigwerden der Wissenschaft kein Herrschaftsanspruch von Wissenschaft gemeint sei, sondern daß es hierbei vielmehr um die notwendige „Teilhabe an der Macht unter der Souveränität der unter Entscheidungszwang stehenden Öffentlichkeit"  gehe.
Um dies zu verstehen, sei an die Argumentation bezüglich der - auch von DAXNER geforderten - Demokratisierung des Wissenschaftssystems (Stichwort: „Hochschule als republikanischer Ort") erinnert. Schon allein das an BEUYS erinnernde Motto: „Jeder ist ein Wissenschaftler!", das im Zentrum von Kapitel 9.2.5 stand, dürfte deutlich machen, daß mit der Forderung einer verstärkten gesellschaftspolitischen Bedeutung der Wissenschaft keiner demokratiefeindlichen Expertokratie das Wort geredet wird.
Um es auf den Punkt zu bringen: Es geht hier nicht um eine Stärkung der Macht des real existierenden Sozialsystems „Wissenschaft", sondern ausschließlich um eine Stärkung der Bedeutung des Aussagensystems „Wissenschaft". Zunehmend Einfluß gewinnen sollte also nicht die Kaste der real existierenden WissenschaftlerInnen, sondern das konsequente, wissenschaftliche Denken, und damit meine ich vor allem die in Kapitel 9.1 rekonstruierte wissenschaftliche Methode.
Damit kommen wir zu einem ganz entscheidenden Punkt der Argumentation: Es ist - wie ich nachfolgend in aller Kürze zu zeigen gedenke - für das Projekt einer nachhaltigen Entwicklung der Menschheit von allergrößter Wichtigkeit, daß sich das wissenschaftliche Wahrheitsprinzip gegen das formaldemokratische Kompromiß- oder Mehrheitsprinzip durchsetzt.
Führen wir uns - um dies zu verstehen - den zentralen Unterschied von wissenschaftlichem Wahrheitsprinzip und formaldemokratischem Kompromißprinzip vor Augen:
Während es im Kontext des wissenschaftlichen Wahrheitsprinzips logisch begründete und damit gerechtfertigte Zwänge gibt, die Gültigkeit einer Aussage zu akzeptieren oder zu verwerfen, ist der logische Wahrheitswert einer Aussage im Kontext des formaldemokratischen Kompromißprinzips hochgradig irrelevant, da hier die Akzeptanz einer Aussage nicht von ihrem Wahrheitswert, sondern von politischen Mehrheitsverhältnissen, d.h. vom politischen Meinungsmarkt, abhängt.

2+2=22?


Ich möchte die hier angesprochene Problematik an einem einfachen - zugegeben: polemisch formulierten - Beispiel verdeutlichen:
Im Kontext des wissenschaftlichen Wahrheitsprinzips kann es aufgrund der axiomatischen Festlegungen der Mathematik auf die Frage: „Was ist das Ergebnis der Addition 2+2?", nur eine einzige richtige Antwort geben, nämlich die Antwort: „4".
Im Kontext des formaldemokratischen Prinzips können auf die gleiche Frage jedoch höchst unterschiedliche Antworten gegeben werden, die entsprechend der politischen, weltanschaulichen oder religiösen Gesinnung der Antwortgebenden variieren. So könnte zum Beispiel eine christliche Gruppierung im Hinblick auf die kulturtragende Bedeutung der Zehn Gebote energisch für die Zahl 10 votieren, während GewerkschaftslobbyistInnen sich vielleicht (als symbolische Geste für die 36-Stundenwoche) mit großem Eifer für die Zahl 36 stark machen. Nehmen wir noch die etwas exotischere Schar der Douglas ADAMS-Fans hinzu, für die die ultimative Antwort auf alle Fragen ohnehin „42" lautet , so ist das Chaos perfekt. Wie würden RealpolitikerInnen nun mit dieser merkwürdigen Form gesellschaftlicher Pluralität umgehen? Aller Wahrscheinlichkeit nach würde ihre Antwort einen Wert so um die Zahl „22" herum ergeben, nicht nur weil hier die beiden Zahlen der Ausgangsfrage politisch sauber integriert werden konnten, sondern vor allem deshalb, weil RealpolitikerInnen stets davon ausgehen, daß die richtige Lösung irgendwo in der Mitte zu finden ist.  (Selbstverständlich ist bei der Lösung 22 Rücksicht auf die Bedeutung der christlichen Tradition genommen worden, was die Abweichung von der Mitte und die größere Nähe zur Zahl 10 erklärt.)
Aber Spaß beiseite, die Sache ist ernst genug: Die formaldemokratische Eliminierung des Wahrheitsprinzips ist - vor allem angesichts der globalen Bedrohung der Menschheit - heute mit verheerenden weltgesellschaftlichen Folgen verbunden, denn wissenschaftlich erarbeitete, zukunftsfähige Lösungsmodelle können nicht zuletzt auch deshalb nicht umgesetzt werden, weil weitgehend unaufgeklärte Bevölkerungsmehrheiten - incl. der nicht weniger unaufgeklärten Mehrheit der WirtschaftsführerInnen und PolitikerInnen - solche Strategien nicht befürworten und statt dessen für politische Maßnahmen votieren, die zwangsläufig in den Untergang führen werden.
Deshalb nochmals im Klartext: Eine Politik, die aus engstirnigen Opportunitätsgründen auf der Gültigkeit der Formel 2+2=22 aufbaut, muß über kurz oder lang in den Abgrund führen, weil bestimmte Wahrheiten nicht dauerhaft geleugnet werden können, ohne daß das Ganze Schaden nimmt. (Hier sei an die Parabel vom „gelben Fluß" aus Kapitel 9.1.2. erinnert.)
In der derzeitigen, angespannten Situation können wir uns „fehlerbedingte technische Pluralität" (vgl. Abbildung 29: Pluralitätsproduktion im Forschungsprozeß) nicht mehr uneingeschränkt leisten. Da aber Wahrheit „entgegen postmoderner Mythologie nicht durch Mehrheitsentscheid gewonnen oder im Pluralismus-Sud verkocht werden kann" (Kapitel 6.5.3), müssen WissenschaftlerInnen ihrer zentralen ethischen Pflicht nachkommen und in aller Schärfe gegen den gesellschaftstragenden Konsensus der Dummheit angehen, was auf einer abstrakteren Ebene auch bedeutet, daß sie das wissenschaftliche Wahrheitsprinzip gegenüber dem formaldemokratischen Kompromiß- und Mehrheitssystem energisch verteidigen müssen.
Um dies leisten zu können, ist heute eine kritische, human engagierte Wissenschaft gefordert, die das traditionelle Postulat der „Freiheit von Lehre und Forschung" auf eine ganz besondere Art und Weise verwirklicht, nämlich durch eine weitgehende Emanzipation von den drei strukturellen Grundblockaden, die im real existierenden Wissenschaftssystem eine konsequent humanistische Wissenschaft stets wirksam verhinderten. Hierbei handelt es sich um:
1. die traditionellen, internen Barrieren des Wissenschaftssystems, die wir in Kapitel 9.2 unter die Lupe genommen haben,
2. die unmittelbaren, auf kurzfristige Interessen abgestimmten Anforderungen von Staat und Wirtschaft ( Stichwort: „Dienstleistungsorientierung") und
3. den aus sozialem Anpassungsdruck geborenen Zwang zur unkritischen Bestätigung temporär gültiger, gesellschaftlicher Vorurteile. (Hieran erkennt man übrigens ein weiteres Mal, daß für die Wissenschaft letztlich das gleiche gilt wie für die Kunst, denn was SCHILLER treffend - wenn auch (wie immer) ein wenig zu pathetisch - für die KünstlerInnen formulierte, das trifft im gleichen Maße auch auf WissenschaftlerInnen zu: „Der Künstler ist zwar Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar ihr Günst-ling ist. Eine wohltätige Gottheit reiße den Säugling beizeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der Milch eines besseren Alters..." )

Fazit


Es ist mehr denn je von großer Wichtigkeit, daß die wissenschaftliche Methode zum Aufbrechen gesellschaftlich normierter Vorurteile genutzt und für breite Bevölkerungskreise nachvollziehbar und anwendbar wird. Gelingt dies nicht, so wird die Demokratie, die bereits heute eine barbarische Tyrannei über die Zukünftigen darstellt, ökologisch vollends untragbar werden. Gabor KOSCIS hat durchaus recht, wenn er feststellt, daß das Grundproblem der modernen Demokratien nicht zuletzt darin besteht, „daß die überwiegende Mehrheit der Menschen, die Anspruch auf die Mündigkeit erheben, den Ansprüchen, die die Mündigkeit an sie stellt, nicht gewachsen ist."
Angesichts der unübersehbaren politischen Mündigkeitsdefizite der Bevölkerungsmehrheiten bedarf es heute - überlebensnotwendig - einer breit angelegten Bildungsoffensive, einer zweiten Aufklärung, die ihre Energie darauf konzentriert, die Menschen möglichst weitgehend aus den Fesseln der Unmündigkeit zu befreien. Selbstverständlich weiß niemand, ob das Projekt der Aufklärung im zweiten Anlauf besser gelingt, als dies in der Frühphase der kapitalistischen Entwicklung der Fall war. Aber immerhin können wir heute - dank geschichtlicher Erfahrung und, wie ich meine, verfeinerter logischer Argumentation - relativ gesichert davon ausgehen, daß die zum Teil doch erschreckende politische Unmündigkeit breiter Bevölkerungsschichten - entgegen dem elitären, idealistischen Mythos der ersten Aufklärung - alles andere als selbstverschuldet, sondern strukturell bedingt und damit auch strukturell veränderbar ist.
Allerdings: Damit das dringend notwendige Projekt der Aufklärung überhaupt in Gang kommen kann, müssen diejenigen, die das gefährliche Wissen vom Untergang besitzen, beherzt die Initiative ergreifen. Insbesondere die Intellektuellen, die sich in der Regel das Privileg der Bildung nicht erkämpfen mußten, dürfen nicht der Versuchung erliegen, dem postmodernen Willen zur Ohnmacht zu gehorchen. Hinter der modischen Fassade der ironischen Resignation lauert nämlich eine Feigheit des Herzens, der wir ebensowenig nachgeben dürfen wie der damit verbundenen Bankrotterklärung der Vernunft. Zwar mag der Abschied von der Vision einer menschenwürdigen Zukunft angesichts der eingefahrenen Weltsituation verständlich erscheinen. Toleriert werden darf er aber nicht, denn dies wäre ein schrecklicher Verrat an der Menschheit, der nie wieder gut zu machen wäre.

 home.gif (20220 Byte)