Michael Schmidt-Salomon

Wissen statt Glauben

Editorial zu MIZ 3/2004
Heft-Schwerpunkt:
"Wissen statt Glauben: Streitpunkt Evolutionstheorie
(siehe auch: www.miz-online.de/)

Wunder gibt es immer wieder, heute oder morgen können sie gescheh’n“, trällerte Katja Ebstein einst herzzerreißend und landete damit den größten Hit ihrer Karriere. Der Erfolg dieses „Wunderbeschwörungssongs“ war alles andere als ein Wunder, sondern kühl kalkuliert. Das schlichte Liedchen erfüllte alle Kriterien, die einen erfolgreichen Schlager ausmachen: Einprägsame Melodik, einfache Harmonik und Rhythmik sowie eine leicht verständliche und doch irgendwie kryptische Botschaft, in der sich „der Mensch von nebenan“ (heißt: ein Massenpublikum) mit seinen unerfüllten Hoffnungen, Wünschen und Bedürfnissen wiederfinden konnte.

Wenn man heute die Refrainzeile „Wunder gibt es immer wieder“ in die Suchmaschine Google eingibt, erhält man rund 10.000 Treffer. Es ist schon bemerkenswert, auf wie vielen Gebieten Wunder ebsteinmäßíg heraufbeschwört werden, keineswegs nur in der „Twighlight Zone“ der Theologen und Esoteriker, sondern auch im Sport, in der Medizin (je „alternativer“, desto „wundersamer“), selbst in der Literatur, der Kunst, der Wirtschaft, der Sozialpolitik, auf dem Arbeitsmarkt. „Wunder gibt es immer wieder“ – wohin man auch blickt.

Gewiss: Der Begriff „Wunder“ wird keineswegs nur im strengen, supranaturalistischen Sinne verwendet – zur Kennzeichnung von Ereignissen, bei denen angeblich Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden. „Wunder“ nennen wir auch all jene Fälle, in denen gänzlich Unerwartetes – aber nicht Unerklärliches! – geschieht, insbesondere dann, wenn diese Geschehnisse als besondere „Glücksfälle“ gewertet werden. Wenn also jemand vom „Wunder von Bern“ spricht, so muss er nicht notwendigerweise annehmen, dass ein „Fußballgott“ oder irgendein anderes metaphysisches Wesen in die Gesetze der Schwerkraft eingegriffen hat, um den Torschuss von Helmut Rahn für den ungarischen Torwart unerreichbar zu machen. Na klar, wer wollte so etwas schon ernsthaft behaupten? Wir alle sind doch mittlerweile reichlich aufgeklärt und rational gefestigt – oder etwa nicht?!

Nun, offensichtlich sind wir es nicht immer: Auch heute noch kommt kaum ein Sportler – von der Kreisklasse bis zur Weltspitze – ohne Talisman, Bekreuzigung, Morgengebet etc. aus. Der Glaube, dass „da oben“ irgendjemand (oder irgendetwas) entscheidend bei der Vergabe von Meistertiteln und Medaillen mitredet, eine Art „oberster Schiedsrichter“, ist weit verbreitet. Und natürlich vertrauen nicht nur Sportler auf „metaphysische Schützenhilfe“, auch im ach so rationalen Geschäft der Politik mag man auf „übernatürlichen Beistand“ keineswegs verzichten. So beschlossen Senat und Repräsentantenhaus der USA im März 2003 mit überwältigender Mehrheit die Einrichtung eines „offiziellen Gebets- und Fastentags für die im Irak stationierten amerikanischen Soldaten“. Im offiziellen Text des von Georg W. Bush initiierten Aufrufes hieß es, ein „Tag des Fastens und des Gebetes“ sei „notwendig (!!), um den Segen und den Schutz der göttlichen Vorsehung für das Volk der Vereinigten Staaten und unsere Streitkräfte während des Konfliktes in Irak und der Bedrohung durch den Terrorismus zu Hause zu sichern.“ (1)

„Aufgeklärt und rational gefestigt“ klingt das nicht gerade. Sicher: Als „Alteuropäer“ ist man geneigt, da nur spöttisch den Kopf zu schütteln, doch zu Überheblichkeit besteht keinerlei Anlass. Wirklich verankert ist das rationale Denken auch hierzulande nicht. So glauben immerhin 50 bis 70 Prozent der deutschen Bevölkerung, dass paranormale Phänomene wie außersinnliche Wahrnehmung, Telepathie oder Präkognition wirklich existieren. (2) Und wehe dem, der diesen Glauben an das Wundersame, Numinose, durch rationale Erklärungsversuche zu entzaubern versucht! Wenn’s ans irrational Eingemachte geht, kann die stabile Mehrheit der Supranaturalisten recht ungehalten reagieren!

Diese Erfahrung musste unlängst auch ZDF-Moderator Joachim Bublath machen. Der Fernsehjournalist (bekannt aus populärwissenschaftlichen TV-Magazinen wie „Abenteuer Forschung“ und der „Knoff-Hoff-Show“) hatte in der nach ihm benannten Sendung „Joachim Bublath“ Anfang August den „Fauxpas“ begangen, paranormale Phänomene (Wunder, spirituelle Heilungserfolge, übernatürliche Fähigkeiten) mithilfe wissenschaftlicher Deutungsmuster zu erklären (wobei er sich u.a. auf James Randi, den diesjährigen Erwin-Fischer-Preisträger, stützte). Die Empörung war groß, nicht nur in der esoterischen Szene. Im Internetforum zur Sendung wurde Bublaths „Anmaßung“ aufs Schärfste gerügt, wobei „bornierter Hohepriester der Wissenschaft“ noch fast die freundlichste Beschimpfung war, die Bublath über sich ergehen lassen musste.

Obwohl es die Redaktion aus guten Gründen – man arbeitet ja schließlich fürs kirchenfreundliche ZDF! – vermieden hatte, christliche Wunderberichte zu thematisieren (man bezog sich stattdessen vorsichtshalber auf die fernen „Wundertaten“ indischer Gurus), sah sich die evangelische Nachrichtenagentur idea gezwungen, eine kritische Stellungnahme zur Bublath-Sendung zu verbreiten. Unter dem bedeutungsschwangeren Titel „Quo vadis, ZDF?“, erläuterte Werner Thiede, Privatdozent für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg, warum „in einer so tendenziösen Sendung wie der von Bublath […] kaum weniger Ideologie [steckt] als in den kritisierten Weltanschauungen“: „Dass etwa körperliche Vorgänge durch Gedanken auch über größere Distanzen hinweg beeinflusst werden können, ist für eine materialistische Orientierung ebenso schwer denkbar, wie es für eine spiritualistische Weltanschauung selbstverständlich ist. Beides gründet aber letztlich auf Glaubensprämissen: Eindeutige wissenschaftliche Beweise kann weder die eine noch die andere Weltsicht für sich beanspruchen. […] Das Kind wird mit dem Bade ausgeschüttet, wo das Gebiet des Übersinnlichen und damit auch des Religiösen in tendenziöser Weise reduziert wird auf Scharlatanerie.“ (3)

Das zentrale Argument, das Thiede in seiner Stellungnahme bringt – die Behauptung, materialistisch orientierte Wissenschaft sei letztlich auch nichts anderes als ein Glaubenssystem - taucht immer wieder auf, wenn sich Vertreter religiöser oder spiritueller Weltanschauungen gegen wissenschaftliche Kritik zur Wehr setzen. Richtig an dieser Behauptung ist, dass auch Wissenschaft notwendigerweise auf prinzipiell nicht mehr hinterfragbaren Denkvoraussetzungen beruht, allerdings sind diese Denkvoraussetzungen – und hier unterscheidet sich die Wissenschaft von allen Glaubenssystemen! – nicht inhaltlicher, sondern methodischer Art. In der Wissenschaft gibt es keine inhaltlichen Aussagen, die geglaubt werden müssen. Im Gegenteil: Jede wissenschaftliche Aussage steht – und dies ist, wenn man so will, das Dogma der Wissenschaft – unter permanentem Begründungszwang, wobei zwischen wahren und falschen Aussagen systematisch unter Zuhilfenahme logischer und empirischer Testverfahren unterschieden wird. (4)

An diesem Punkt zeigt sich, dass Thiedes Gegenüberstellung von wissenschaftlichem Materialismus und Spiritualismus keineswegs stimmig ist. Denn würde im Zuge einer wissenschaftlichen, d.h. logisch-empirischen Überprüfung tatsächlich festgestellt werden, „dass körperliche Vorgänge durch Gedanken auch über größere Distanzen hinweg beeinflusst werden können“ (bislang fehlt es hierzu an ernstzunehmenden Belegen!), würden Wissenschaftler diese bahnbrechende Erkenntnis selbstverständlich in ihr Konzept der Wirklichkeit einbinden und das bislang so fruchtbare materialistische Paradigma fallenlassen. Im Unterschied zu Glaubenssystemen, die ihre Identität aus der Festschreibung meist Jahrtausende alter Mythen beziehen, muss Wissenschaft von ihrem Selbstverständnis her jederzeit zu einer solch radikalen Kurskorrektur in der Lage sein. (Dass sie diesem Anspruch in der Regel auch gerecht wird, beweisen viele Beispiele, u.a. die schnelle Integration der Einsteinschen Relativitätstheorie, die das vorangegangene wissenschaftliche Weltbild in doch beachtlichem Maße aus den Angeln hob.)

Halten wir fest: Während Glaube im Kern statisch ist, weil er auf angeblich sicheren Glaubenswahrheiten basiert, die nicht angezweifelt werden dürfen, ist Wissenschaft dynamisch, weil sie auf einer Methodologie des Zweifelns beruht, die eine absolute Sicherheit der Erkenntnis von vornherein ausschließt („methodologischer Agnostizismus“). Pointiert und auch ein wenig paradox formuliert: Der Unterschied zwischen den Vertretern des Wissens und den Vertretern des Glaubens besteht darin, dass Wissenschaftler wissen, dass sie nur etwas "glauben" (= für „wahr“ halten), was heute zwar angemessen erscheint, morgen aber möglicherweise schon überholt ist, während Gläubige glauben, etwas zu wissen, was auch morgen noch gültig sein wird, obwohl es in der Regel schon heute widerlegt ist .

Doch gehen wir in diesem Punkt mit den Gläubigen nicht zu hart ins Gericht. Es ist ja nicht so, dass die Vertreter des Glaubens trotz aller Realitätsverdrängung, die mit Glaubensfestigkeit Hand in Hand geht, mitunter nicht doch etwas dazu lernen könnten! Allerdings musste ihnen bislang jeder einzelne Lernschritt erst einmal in harten, zähen Kämpfen abgerungen werden. Man nehme als Beispiel nur die Debatte um Evolutionstheorie und Kreationismus, die im Schwerpunkt der vorliegenden MIZ behandelt wird. (5)

Ursprünglich galt die biblische Schöpfungsgeschichte als ein Ernst zu nehmender Tatsachenbericht, dem selbst in kleinsten Details nicht widersprochen werden durfte. (Eine Position, die die Hardcorefraktion der Kreationisten bekanntlich auch heute noch vertritt.) Doch angesichts des Drucks der empirischen Daten, die über viele Jahrzehnte gesammelt wurden und deren Veröffentlichung selbst die einst so mächtige Kirche nicht unterdrücken konnte, lässt sich eine solch wortgetreue Auslegung der biblischen Schöpfungsgeschichte heute nur noch schlecht verkaufen. Also lernte man dazu und schuf neue Hilfskonstruktionen, um das einst Geglaubte mit dem nun besser Gewussten notdürftig in Einklang zu bringen.

Ein Produkt dieser seltsamen Mixtur aus Glauben und halbherziger Wissenschaft ist die sog. „Intelligent Design“-Theorie. (6) So sehr sich die Verfechter dieser Theorie auch bemühen, wenigstens von ihrem Sprachduktus her wissenschaftlich zu klingen, mit Wissenschaft hat das Ganze herzlich wenig zu tun. Der Erklärungswert der Theorie ist gleich null, Vorhersagen können auf ihrer Basis nicht getroffen, stattgefundene Entwicklungsprozesse nicht nachvollzogen werden. Schon allein der Begriff „Intelligent Design“ ist bei genauerer Betrachtung eine Absurdität sondergleichen, denn wie „intelligent“, so muss man sich doch fragen, kann ein „Designer“ schon sein, der eine derartig groteske Arbeitsweise an den Tag legt? Was um alles in der Welt veranlasste ihn beispielsweise dazu, zunächst a) eine ungeheure Vielfalt von Dinosauriern zu erschaffen, später b) einen riesigen Felsbrocken auf deren Heimatplanet einschlagen zu lassen, damit c) die Dinosaurier wieder aussterben, um so d) Platz zu schaffen für die vermeintliche Krönung seiner Schöpfung, Homo sapiens sapiens?

Keine noch so chaotische Grafikagentur, kein Fahrzeughersteller, keine Modefirma, kein Mensch, der halbwegs bei Verstand ist, würde einen Designer mit einer derart verheerenden Kosten-Nutzen-Bilanz einstellen! Für Kreationisten gilt er dennoch als Inbegriff der Intelligenz schlechthin. Wie es scheint, ist nichts, aber auch wirklich gar nichts, absurd genug, dass Menschen es nicht glauben und mit penetranter Hartnäckigkeit verteidigen können! Wenn auch die Existenz (permanent wiederkehrender) supranaturalistischer Wunder – Katja Ebstein zum Trotz – mit gutem Recht bezweifelt werden kann, eines hat der geschichtliche Prozess bislang doch mehr als eindrucksvoll bestätigt: Wundersame Menschen gibt es immer wieder…


Anmerkungen

(1) Meldung der Tagesschau vom 28.3.03

(2) vgl. Bauer, Eberhard/ Schetsche, Michael (Hrsg.) (2003). Alltägliche Wunder. Erfahrungen mit dem Übersinnlichen. Würzburg.

(3) Quo vadis, ZDF? Bublaths Anti-Esoterik-Sendung stellt die Dinge extrem einseitig dar - Ein Kommentar von Werner Thiede. Idea, 12.8.2004 (zu finden unter anderem auf www.kath.net)

(4) vgl. hierzu Schmidt-Salomon, Michael (1999): Erkenntnis aus Engagement. Alibri, S. 355ff. Siehe auch Schmidt-Salomon, Michael (2003): Was ist Wahrheit? Das Wahrheitskonzept der Aufklärung im weltanschaulichen Widerstreit. In: Aufklärung und Kritik 2/2003.

(5) Vielen Dank in diesem Zusammenhang an Prof. Dr. Ulrich Kutschera, der nicht nur den einleitenden Artikel des aktuellen MIZ-Schwerpunkts verfasste, sondern auch dessen Koordination übernahm.

(6) siehe hierzu die Beiträge von Thomas Junker und Martin Neukamm im vorliegenden Heft

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